Von Gastautorin Manuela Putz
Unabhängigkeit ist eine der essenziellsten Fähigkeiten, die wir beim Erwachsenwerden brauchen. Als Lehrerin sehe ich täglich überbehütete und entmutigte Kinder. Ihnen fehlt es oft an Selbstvertrauen und sie tun sich schwer Dinge alleine zu erlernen. Unabhängige Kinder hingegen sind nicht nur selbstbewusster, sie können sich besser einschätzen und haben mehr Geduld und Motivation. Sie sind sich ihrer Selbstwirksamkeit bewusst und werden daher im späteren Leben auch glücklicher und erfolgreicher.
Laut Maria Montessori (Begründerin der Montessoripädagogik) gibt es in der Kindheit sogenannte „sensible Phasen“. In diesen Phasen können Kinder neue Konzepte und Fähigkeiten sehr leicht erlernen. Wenn wir als Erwachsene unsere Schützlinge dabei unterstützen, müssen sie sich diese Fähigkeiten nicht mühsam im späteren Leben erarbeiten. Wie können wir unsere Kinder also dazu ermutigen, unabhängig zu werden und ihnen beim Wachsen helfen?
Hier sind 5 starke Montessori-Ideen für dich, mit denen du die Unabhängigkeit deines Kindes fördern kannst:
1. Jedes Objekt hat seinen Zweck
In einem Montessori Kinderzimmer hat jeder Gegenstand seinen Zweck. Dies bedeutet, dass Bücher, Spielzeuge oder Materialien, für die dein Kind sich nicht mehr interessiert, aus dem Zimmer entfernt werden. Alle anderen Gegenstände im Kinderzimmer sind gut organisiert und einfach zu finden. Das Kinderzimmer sollte minimalistisch sein. Natürlich muss man auf Dekoration nicht verzichten, aber zu viele Bilder, Textilien oder Muster sind schlecht für die Konzentration deines Kindes.
Praktische Tipps für ein gemütliches, minimalistisches Kinderzimmer:
- Ein Montessori-Kinderzimmer enthält ein Montessori-Bett und eine kleine Kinderküche mit einem Miniatur-Esstisch. Es gibt ebenfalls einen Basteltisch mit übersichtlichen Bastelmaterialien und Stiften, eine gut beleuchtete Leseecke, eine kleine Garderobe, eine Spielmatte und ein Klettergerüst.
- Die Wandfarben, Textilien und Möbel sind in beruhigenden Farben gehalten.
- Die Möbel sind aus Holz, Stein oder anderen Naturmaterialien.
- Bringe deinem Kind bei, dass jeder Gegenstand im Kinderzimmer seinen Zweck erfüllt. Dies kannst du tun, indem du jeden Abend das Kinderzimmer gemeinsam mit deinem Kind aufräumst. Alle Gegenstände kommen zurück an ihren Platz und sind somit wieder einfach zu finden.
2. Meine Umgebung ist ansprechend
Alle Bücher, Spielzeuge und Accessoires im Kinderzimmer sollten das Kind ansprechen. Ein Prinzip der Montessoripädagogik ist nämlich, dass man lieber eine handvoll ansprechender Spielzeuge hat als unzählige Objekte, für die das Kind sich nicht mehr interessiert. Nach einiger Zeit ändern sich die Vorlieben deines Kindes und es will mit bestimmten Dingen nicht mehr spielen. Am besten du entsorgst oder verkaufst die „alten“ Spielzeuge nicht gleich, sondern verstaust sie. Denn nach ein paar Monaten kann es sein, dass dein Kind wieder mit diesen Objekten spielen will. Du wirst jetzt auch beobachten, dass es ganz anders mit den alten Spielsachen umgeht als früher. So funktioniert Lernen! Kinder entdecken das, was sie bereits können und adaptieren es auf neue Art und Weise.
Praktische Tipps fürs Gestalten einer ansprechenden Umgebung:
- Ersetze die Spielsachen, Bücher und Accessoires deines Kindes, wenn es das Interesse daran verloren hat. Nach ein paar Monaten kannst du ausprobieren, wie dein Kind jetzt darauf reagiert.
- Hilf deinem Kind seine sensorischen Fähigkeiten zu entdecken: Fülle eine Schüssel mit trockenen Linsen und lass dein Kind die Konsistenz der Linsen fühlen. Es wird sich einige Zeit damit beschäftigen. Am nächsten Tag kannst du das Gleiche wieder ausprobieren, allerdings mit anderen Materialien, z. B. trockenen Nudeln oder Reis. Wenn du deinem Kind noch kleinere Schüsseln und Behälter zur Verfügung stellst, spielt es bestimmt gerne mit diesen Alltagsmaterialien. Alltagsgegenstände sind wunderbare Spielsachen!
- Im Internet findest du zahlreiche Secondhand-Shops, die Montessori-Spielsachen anbieten. Vielleicht kannst du über Foren auch in Kontakt mit anderen Eltern treten und Materialien, Spielzeuge oder Bücher austauschen.
3. Hilf mir es selbst zu tun
„Hilf mir es selbst zu tun“, ist das wohl bekannteste Motto der Montessoripädagogik. Wenn wir als Eltern unsere Kinder ermutigen die Welt selbst zu entdecken und zu begreifen, tragen wir einen großen Teil dazu bei, dass sie später unabhängige und glückliche Erwachsene werden. Maria Montessori sagte einmal: „Hilf einem Kind niemals mit einer Aufgabe, die es selbst erledigen kann.“ Wir sind oft unter Stress und wollen, dass alles so schnell wie möglich funktioniert. Aber hier sollten wir innehalten. Wenn wir genug Geduld und Verständnis zeigen, wird unser Kind irgendwann lernen sich die Schuhe zu binden, sich anzuziehen oder das Töpfchen zu benutzen. Es ist unsere Aufgabe es ihnen zuzutrauen!
Praktische Tipps für dich:
- Auch wenn du unter Stress bist, versuche die Geduld zu bewahren. Dein Kind braucht vielleicht länger sich anzuziehen oder seine eigene Tasche zu packen. Aber deine Geduld wird sich lohnen. Nach einiger Zeit hat dein Kind eine Routine erlernt und dadurch wirst auch du entlastet.
- Das Gleiche gilt fürs Essen. Wenn dein Kind sehr langsam isst und das Besteck noch im Schneckentempo benutzt, gibt ihm genug Zeit, diese wichtigen motorischen Fähigkeiten zu entdecken. Lass dir außerdem beim Abräumen und Säubern des Tisches helfen, auch wenn dein Kind vielleicht nicht so gründlich putzt, wie du es getan hättest.
- Wenn dein Kind laufen lernt, versuche alle potentiellen Gefahren im Zimmer zu beseitigen. So musst du dem Kind nicht ständig hinterherlaufen, sondern kannst ihm den Freiraum geben, seine neue Bewegungsfähigkeit zu entdecken.
4. Alles in meiner Welt ist auf meine Größe abgestimmt
Laut Montessori können wir die Kinder beim Unabhängigwerden unterstützen, indem alles in ihrer Umgebung auf ihre Größe abgestimmt wird. Dies bezieht sich nicht nur auf Möbel, sondern auch Alltagsgegenstände: Es ist zum Beispiel viel wahrscheinlicher, dass dein Kind einen Besen oder Schwamm verwendet, wenn es diese Gegenstände in Miniaturgröße in seinem Zimmer hat. Das Ziel ist nicht, einem Kleinkind beizubringen wie man perfekt putzt und haushaltet, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben den Alltag auf eigene Art zu entdecken. Und dies ist natürlich einfacher, wenn alles an ihre Größe angepasst ist. Nach einiger Zeit wird dein Kind keine Hilfe beim Anziehen, Tisch decken oder Gemüseschneiden mehr brauchen. Es wird dies ganz unabhängig tun und dabei Spaß haben, weil es nicht auf andere angewiesen ist.
Praktische Tipps für größengerechte Materialien und Möbel:
- Dein Kind hat eine kleine Garderobe und Kleiderstange. Es kann sich ganz einfach die Kleidung nehmen und sich selbst anziehen.
- Dein Kind hat eigenes Besteck und Geschirr an einem Ort, der leicht zugänglich ist. Wenn es einen Zwischensnack zu sich nehmen will, kann es sich seinen eigenen kleinen Tisch decken und eine kleine Mahlzeit zubereiten. Je nach Alter des Kindes kannst du natürlich dabei helfen.
- Das Bett deines Kindes ist einfach zugänglich. Montessori-Betten sind meistens am Boden, sodass das Kind ganz einfach ein- und aussteigen kann.
- Dein Kind hat einen kleinen Besen, Schwämme, Karaffen und einen Spiegel. Für Kleinkinder kann es lustig sein mit einem „Reinigungsspray“ (aus reinem Wasser) auf den Spiegel zu spritzen und ihn zu putzen.
5. Ich helfe meiner Familie im Alltag und es macht mir Spaß
Ich bin in einer sehr liebevollen Familie aufgewachsen, aber meine Eltern haben mir und meiner Schwester nie beigebracht zu kochen, putzen, Dinge zu reparieren oder das Bett zu überziehen. Erst als ich ausgezogen bin, habe ich diese Dinge erlernt. Ich war sehr geschockt davon, wie unfähig ich war, meinen eigenen Alltag zu meistern, vor allem weil Gleichaltrige damit überhaupt kein Problem zu haben schienen. Wenn man sein Kind im Haushalt helfen lässt, ist das nicht nur eine Chance, jeden aktiv ins Familienleben zu integrieren. Es wird auch euch als Eltern guttun, denn ihr seid weniger gestresst, wenn ihr nicht jede Kleinigkeit alleine machen müsst.
Praktische Tipps für den Familienalltag:
- Im Haushalt helfen sollte niemals als Bestrafung angesehen werden. Stattdessen kannst du dein Kind selbstbestimmt helfen lassen, indem du es fragst: „Möchtest du lieber den Boden mit deinem kleinen Besen kehren oder mir beim Kochen helfen?“
- Manchmal braucht dein Kind Monate oder Jahre um etwas Neues zu lernen. Indem wir sie immer wieder positiv bestärken, werden sie nicht aufgeben, sondern es immer wieder probieren. Wenn dein Kind seine Schuhe falsch herum anzieht kannst du sagen: „Du hast deinen linken Schuh am rechten Fuß angezogen.“ Anstatt: „Du kannst dir die Schuhe noch nicht anziehen.“ So merkt dein Kind, dass etwas nicht stimmt, aber es fühlt sich nicht schlecht, sondern kann den Fehler eigenständig beheben.
- Alltägliche Aufgaben können sehr langweilig werden. Du kannst aber auch spaßige Aktivitäten in euren Alltag integrieren, um das Ganze aufzulockern. Beim Kochen kann man gemeinsam singen. Wenn man aufräumt, kann nebenher ein Hörbuch gehört werden oder man spielt ein lustiges Spiel, während man das Bad putzt.
Hier noch mal das Wichtigste im Überblick:
- Entferne Objekte, die im Kinderzimmer nichts mehr zu suchen haben.
- Tausche Bücher, Accessoires und Spielzeuge aus. Vielleicht wecken sie nach ein paar Monaten wieder das Interesse deines Kindes.
- Sei geduldig und versuche nicht einzugreifen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Habe Vertrauen in die Fähigkeiten deines Kinds.
- Kaufe Gegenstände und Möbel, die der Größe deines Kindes entsprechen. So kann es sich unabhängig und frei entwickeln.
- Lass dir von deinem Kind im Alltag helfen. Verwende das Helfen nicht als Bestrafung, sondern als freudige gemeinsame Aktivität.
Und jetzt viel Spaß beim Umsetzen!
Photocredits: Photo by Sigmund on Unsplash
Über Manuela:
Manuela ist 29 Jahre alt und wird im Mai 2022 das erste Mal Mama. Sie arbeitet als Lehrerin, Yogalehrerin und Hobby-Writerin und begeistert sich für Feminismus, Bildung und Mental Health.